Sollten Unternehmen mehr tun, um die Lebenshaltungskostenkrise zu entschärfen?
Die Lebenshaltungskostenkrise scheint kein Ende zu nehmen. Die Inflation bleibt ungewöhnlich und unerwartet hoch. Auch die Energiekrise hält an, zumal die OPEC+ entschlossen ist, einen Rückgang der Ölpreise durch Fördermengenkürzungen zu verhindern.
Die Regierungen vieler Länder unterstützen die Verbraucher dabei, die steigenden Preise zu bewältigen – mit Energiepreisdeckeln und der Verstaatlichung von Versorgern wie EDF in Frankreich.
Aber Energie ist eine Ausnahme. Die Eingriffe der Regierungen erfolgten aufgrund der bislang einzigartig hohen Energienachfrage, die die Unternehmen in die Lage versetzten, steigende Beschaffungskosten an die Verbraucher weiterzugeben. Der Schutz der Privathaushalte vor diesem monopolistischen Verhalten hat für viele Länder Priorität.
Andere Unternehmen geben ihre höheren Kosten hingegen ungebremst weiter, um ihre Margen zu sichern. Damit fördern sie die Inflation und verschärfen die sozialen Folgen für jene, die in besonderem Masse unter der Situation leiden. Niemand will, dass sich Menschen keine Lebensmittel oder andere wesentliche Güter und Dienste leisten können. Aber am Ende wissen die Geschäftsleitungen auch, dass geringere Margen ihren Gewinn und damit auch die Aktienkurse belasten.
Aber wie wäre es mit einem weniger harten Ansatz? Unternehmen könnten durchaus sozialverträglicher handeln, so wie einige Hypothekengläubiger, die ihren Schuldnern in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Zahlungsaufschub gewähren. Ein solch sozialeres Vorgehen könnte der Gesellschaft nutzen, weil dann die Inflation schneller zurückginge und sich die Wirtschaft schneller normalisieren würde.
Einfach aktiv werden
Was würden Unternehmen wohl tun, wenn sie die Möglichkeit und den Anreiz hätten, sozialverträglichere Entscheidungen zu treffen? Die für die Budgets der Privathaushalte wichtigsten Sektoren sind jene, die Produkte und Dienste zur Deckung der Grundbedürfnisse anbieten: Strom & Heizung, Wohnen, Essen. Zur Entlastung bei den Energiekosten haben die Regierungen bereits Massnahmen getroffen, aber vor allem beim Essen sollte bald etwas getan werden.
Supermärkte könnten Grundnahrungsmittel und andere lebensnotwendige Produkte subventionieren, um ihre besonders betroffenen Kunden zu unterstützen. In einigen Ländern gibt es bereits Supermärkte, die ihre Preise einfrieren oder sogar senken. Aber angesichts der enorm hohen Inflation könnten sie noch weiter gehen und riskieren, bei einigen Grundnahrungsmitteln wie Milch und Brot Verluste zu machen, damit die Menschen, die unter besonderem finanziellen Druck stehen, über die Runden kommen können. In vielen Supermärkten kaufen weiterhin auch Menschen ein, die in der glücklichen Lage sind, sich vergleichsweise hochpreisige Lebensmittel wie Wein und Delikatessen leisten zu können. Die mit diesen Produkten erzielten Gewinne könnten helfen, die Subventionen anderer Waren zu finanzieren.
Dieser Ansatz muss nicht die reine Mildtätigkeit sein. Derartige Massnahmen können nicht nur die Kundenbindung stärken, sondern auch der Reputation eines Unternehmens zugutekommen, sodass dessen Marktanteil langfristig steigen kann.
Risiken verantwortungslosen Verhaltens
Bedauerlicherweise scheinen einige Unternehmen die Inflation als Grund für Preiserhöhungen zu nutzen oder auf andere Weise für stabile Margen zu sorgen, ohne Rücksicht auf mögliche Reaktionen der Verbraucher. Da sich die Kunden am Ende für solche Verfahrensweisen (und an jenen, die sie nutzen) „rächen“ könnten, gibt es gute langfristige wirtschaftliche Gründe für Unternehmen, darauf zu verzichten. Dennoch scheinen sich derartige Praktiken immer mehr durchzusetzen.
Ausserdem könnten Unternehmen, die Inflation als eine Chance betrachten, Übergewinne zu erzielen, mehr riskieren als einen schlechteren Ruf und langfristige Gewinneinbussen. Einige monopolistische Branchen wie Telekommunikation wurden in der Vergangenheit schon einmal von den Aufsichtsbehörden ins Visier genommen. Das könnte erneut geschehen. Einige britische Mobilfunkanbieter werden ihre Preise bald nicht nur an die Inflation anpassen, die zurzeit gemessen am Verbraucherpreisindex bei etwa 10% liegt, sondern noch um fast 4% darüber hinausgehen. Es gibt keinen Grund, warum die Übertragung von Daten 14% mehr kostet, nur weil die allgemeine Inflation bei 10% liegt. Eine solche Entscheidung bringt nicht nur Reputationsrisiken mit sich. Auch die Aufsichtsbehörden könnten willkürliche Preissteigerungen während einer Lebenskostenkrise für fragwürdig halten.
Das Investmentdilemma
Inmitten der Flut von Herausforderungen, mit denen sich Investoren derzeit befassen müssen, kann es schwierig sein, die sozialen Folgen von Unternehmensstrategien zu beurteilen. Die meisten Portfolios, die nach ökologischen, sozialen und governancebezogenen (ESG-)Gesichtspunkten gesteuert werden, nutzen zahlreiche Kennzahlen und Informationen, um die „E“- und „G“-Risiken eines Unternehmens zu messen. Soziale Risiken und ihre möglichen finanziellen Folgen sind schwerer zu erkennen und zu quantifizieren. Da aber das Wohlergehen des Menschen im Mittelpunkt der meisten Dinge steht – von der Konjunktur bis hin zur Bekämpfung des Klimawandels – spricht einiges dafür, das „S“ in ESG nicht zu vernachlässigen, sondern im Gegenteil, als den wichtigsten Faktor zu betrachten.
Die Tatsache, dass so viele Menschen unter enormen finanziellen Druck geraten sind, zeigt, welchen Vorteil das hätte. Aber kurzfristig hat das Spannungsfeld zwischen Gewinnorientierung und sozialem Nutzen Bestand. Wäre es für Unternehmen und Aktionäre besser, jetzt explizit sozialverträglich zu handeln und den Nutzen dieser Entscheidungen gegen die treuhänderischen Pflichten von Aktiengesellschaften abzuwägen, als zuzulassen, dass die Inflation noch länger ungewöhnlich hoch ist?
Leider gibt es darauf keine einfache Antwort. Aber inmitten der schlimmsten Inflationskrise unserer Generation sollten wir uns alle diese Frage stellen.
Rechtliche Hinweise