Tektonische Verschiebungen in der Politik
- Die Rufe nach einer handlungsstarken Politik werden immer lauter, aber zugleich herrscht ein politisches Vakuum, weil sich die Zentralbanken von der Finanzpolitik unabhängig machen.
- Im Euroraum steigen die Inflationsrisiken weiter, und das BIP im 1. Quartal wird den Vertrauensumfragen nicht gerecht. Die EZB dürfte sich eher auf die Inflation konzentrieren.
Wir gehen davon aus, dass die Fed ihren Leitzins in dieser Woche um 50 Basispunkte anhebt. Auch die Rhetorik der EZB wird straffer, sodass eine erste Zinserhöhung bereits im Juli nicht ausgeschlossen ist. Das ist nicht mehr nur eine „Normalisierung“, sondern eine Verschiebung des gesamten Politikmix. Wir werden uns von der kurzen Zeit der grenzenlosen geldpolitischen Unterstützung verabschieden müssen. Die durch die Pandemie entstandene Ausnahmesituation, die dafür gesorgt hat, dass die Finanzpolitik den Ton angibt, geht zu Ende. Gerade jetzt, da die Politik entschlossen handeln müsste, steht der Westen vor einem möglichen politischen Vakuum. Soziale Ungleichgewichte werden nicht mehr toleriert, der demografische Wandel erfordert eine Umstrukturierung der öffentlichen Ausgaben, und die Menschen fordern einen entschiedenen Kampf gegen den Klimawandel, möglichst ohne Auswirkungen auf ihre persönlichen Finanzen.
Wir sehen drei mögliche Wege zur Lösung des Problems der endlos steigenden Nachfrage nach politischem Handeln und dem leeren Instrumentenkoffer. Erstens könnten die Regierungen so tun, als sei die Geldpolitik weiter locker. Sie könnten weiter massive finanzielle Hilfen gewähren und darauf setzen, dass die Zentralbanken ihr am Ende folgen, indem sie ungeachtet der Inflation wieder expansiver werden, weil sie die politischen und wirtschaftlichen Folgen einer auseinanderdriftenden Geld- und Fiskalpolitik scheuen. Eine extreme Form dieses Ansatzes wäre, die Zentralbanken wieder der Finanzpolitik zu unterwerfen. Wir halten dies für wenig wahrscheinlich, weil es die Staatshaushalte extrem belasten würde. Zweitens könnte sich die Finanzpolitik zusammenreißen und nicht mehr auf jedes kleine Auf und Ab des Konjunkturzyklus reagieren. Das käme einer Rückkehr zu ihrer Strategie in den 1990er-Jahren gleich. Aber die Politik ist derzeit in höchster Alarmbereitschaft, und es ist unklar, wie es unseren schon jetzt gespaltenen westlichen Demokratien erginge, wenn sie ungebremste Anstiege der Arbeitslosigkeit und Rückgänge der Realeinkommen zuließen. Drittens könnten die Regierungen versucht sein, sich die Finanzkraft der Unternehmen zunutze zu machen, um ihre Ziele zu erreichen. Das könnte aggressive Formen annehmen, beispielsweise enorme Steuererhöhungen oder Regulierungsdruck – oder partnerschaftlich ablaufen, mit Anreizen für Unternehmen, sich der Erderwärmung und demografischen Herausforderungen entgegenzustellen. Vermutlich wird es eine Kombination aus diesen drei Ansätzen werden, aber in jedem Fall wird die neue finanzpolitische Ordnung wohl unsere Demokratien belasten.
Weg von der puren Theorie befassen wir uns mit den Einzelheiten der aktuellen EZB-Debatten und werfen einen Blick auf die jüngsten Daten, die sehr unterschiedliche Bilder zeichnen: die Inflationsrisiken steigen, während das BIP im 1. Quartal die zuversichtlichen Unternehmensvertrauensumfragen konterkariert. Angesichts der aktuellen Stimmung der EZB dürfte sie sich allerdings mehr auf die Inflation als auf das Wachstum konzentrieren.
Rechtliche Hinweise