Vergessen Sie das Auf und Ab: Bewertungen und Langfristperspektiven sind wichtiger
Manchmal scheinen Volkswirte in einer Parallelwelt zu leben. Sie glauben fest an ihre Wachstums-, Inflations- und Zinsprognosen, auch wenn sie im Rückblick eher mässig waren.
Anspruchsvolle Diskussionen über Themen wie den sogenannten neutralen Zins – den man gar nicht beobachten kann – können Anleger verwirren. Gerne sagen wir Volkswirte auch, dass die Märkte „unrecht“ haben: Aktienhändler seien zu euphorisch, Anleihenhändler zu pessimistisch.
Investoren wollen eigentlich langfristig handeln, aber viele Marktanalysen sind sehr kurzfristig. Natürlich müssen Anleger versuchen, die aktuelle Lage zu verstehen. Sie sollten sich dabei aber auf Bewertungen und langfristige Ertragsperspektiven konzentrieren – und nicht darauf, was der Markt eigentlich „einpreisen“ sollte. Jetzt, wo in den Industrieländern allmählich die Zinsen fallen (auch ohne die von vielen Volkswirten prognostizierte Rezession), ist langfristiges Denken wichtiger denn je.
Fairerweise muss man aber sagen, dass die Komplexitäten der Wirtschaft immer schwerer zu verstehen sind. Corona hatte massive Auswirkungen auf Lieferketten und Nachfrageverhalten. Die Arbeitsmärkte funktionieren heute anders, und natürlich mussten manche Firmen aufgeben. Auch neue Technologien verändern viel. Arbeitsabläufe, Kommunikation und Forschung wandeln sich.
Wirtschaft im Wandel
Wichtig ist auch die Demografie. In den meisten grossen Volkswirtschaften altert die Bevölkerung. Die Geburtenrate liegt unter der Sterberate, sodass die Bevölkerung nur wenig wächst oder gar schrumpft. Klimamigration und Kriegsflüchtlinge machen die Lage am Arbeitsmarkt nicht einfacher. Es ist unklar, ob die Statistik all dies und die zahlreichen Veränderungen wirklich vollständig erfassen kann. Jeden Monat analysiert man die neuesten Konjunkturdaten bis ins kleinste Detail. Aber was bringt das? Wie alle Preise hängen auch die Wertpapierkurse von Angebot und Nachfrage ab. Es gibt Wichtigeres als die Reaktion auf die aktuellen Einzelhandelsumsätze.
Dennoch sind die Konjunkturschwankungen heute nicht mehr so stark wie früher – vor allem, weil Wirtschaftspolitik und Globalisierung für weniger Inflation und mehr Flexibilität gesorgt haben. Wachstumseinbrüche waren in den letzten Jahren meist die Folge von Schocks, mit denen kaum jemand rechnen konnte. Dass die so oft prognostizierte Rezession 2024 bislang ausblieb, zeigt, wie schlecht die alten Modelle die neue Realität abbilden. Die Zinserhöhungen hatten einfach nicht die erwarteten Auswirkungen auf die Konjunktur. Aber der laufende Zyklus ist noch nicht vorbei: Die Jahre 2021 und 2022, als die Inflation kräftig stieg, haben uns gelehrt, dass Abweichungen vom Langfristtrend noch immer möglich sind und Auswirkungen auf die Finanzmärkte haben können. Aktive Langfristinvestoren haben dadurch die Aussicht auf ordentliche risikoadjustierte Erträge.
Die neue Normalität
Der Nach-Corona-Anstieg der Inflation ist vorbei. Die Notenbanken reagierten mit Zinserhöhungen, die wiederum Auswirkungen auf die Bewertungen und Risikoprämien von Wertpapieren hatten. Die Aktienmarktverluste waren so hoch wie sonst in der Rezession. Auch Anleihen reagierten auf das Ende der lange so lockeren Geldpolitik. All das liegt jetzt hinter uns. Jetzt sehen wir wieder nach vorn. Wie es scheint, hat sich durchaus wieder ein langfristiges Gleichgewicht eingestellt. Die Notenbanken beenden allmählich die restriktive Geldpolitik und kehren zu einer neutraleren Haltung zurück. Die Wirtschaft wächst weiter, in den Industrieländern dicht am Trend. Daran ändern auch Unsicherheitsfaktoren wie die Wahlen in den USA, die schwache Konjunktur Chinas und die vielen Krisenherde nichts.
2022 und 2023 waren Verluste kaum zu vermeiden. Anleihen konnten das Minus von Aktien und anderen Assetklassen nicht ausgleichen, da auch sie auf die neue Geldpolitik reagierten. Jetzt dürfte sich Portfoliodiversifikation wieder lohnen. Der Zinsausblick ist klarer. Wenn, womit ich rechne, die Inflation in den Industrieländern auf etwa 2% zurückgeht, können die sich Markterwartungen zu den Nominalzinsen als weitgehend richtig erweisen. Ein mittelfristiges Leitzinsziel von 3% in den USA, etwas mehr in Grossbritannien und 2% im Euroraum wären dann die neuen Gleichgewichtswerte. Volkswirte kritisieren gern die Markterwartungen und nennen alle möglichen Gründe, weshalb sie falsch sein könnten. Alternativ- und Risikoszenarien mit unbekannter Wahrscheinlichkeit sind für die Konstruktion langfristiger Portfolios aber wenig hilfreich.
Die niedrigeren Zinsen helfen den Haushalten schon jetzt bei der Refinanzierung ihrer Hypotheken und den Unternehmen beim Schuldendienst. Megatrends wie die Energiewende und die Entwicklung generativer KI sorgen unterdessen für grosse Investitions- und Gewinnchancen. Die Zinsen bewegen sich in Richtung neutral, die Inflation lässt weiter nach, und solide finanzierte Unternehmen steigern ihre Gewinne. All das stimmt mich für diversifizierte Portfolios in den nächsten Jahren optimistisch.
Rechtliche Hinweise