Draghi trifft den Zeitgeist
Im Überblick:
- Die jüngste Rede von Mario Draghi kann ein nützlicher Leitfaden für politische Entscheider in der Post-COVID-Welt sein.
- In Deutschland würde die Umsetzung seine Lösungsvorschläge allerdings etwas Überredungskunst bedürfen, obgleich der Gedanke an ein bisschen mehr staatliche Aktivitäten und ein energischerer Ansatz bei den internationalen Handelsbeziehungen allmählich auch in Berlin an Reiz gewinnen könnte.
Das Treffen von Mario Draghi mit den EU-Finanzministern letzten Samstag im Zuge seines Berichts über die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union, erinnerte an seinen Einfluss. In seiner Rede in Washington vor zwei Wochen, stellte er ein Konzept für die politischen Entscheider in der Welt nach COVID vor, das weitreichende Veränderungen bedeuten würde. Es gelang ihm, eine Kritik an der Globalisierung im Rahmen des Systems der 1990er-Jahre – die mit der Forderung nach einem energischeren Ansatz für die internationalen Handelsbeziehungen endete – mit der Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Zentralbanken zu verbinden. Die Geldpolitik solle den Regierungen „Raum“ für Investitionen geben, damit sie das Potenzialwachstum steigern und negative Angebotsschocks verkraften können, die aufgrund der Deglobalisierung vermutlich häufiger auftreten werden. Für sich genommen sind diese Ideen nicht wirklich neu, aber indem er sie so auf den Punkt brachte, hat Mario Draghi den Zeitgeist getroffen.
Allerdings hat sein Narrativ Grenzen. Wenn man seiner Logik folgen wollte, müsste aus unserer Sicht das Inflationsziel angehoben werden. Und das wäre mit erheblichen Risiken verbunden. Wir vermuten aber, dass Draghi nicht zu viele Warnungen in den Raum stellen wollte, weil einige Regierungen – vor allem die deutsche – seinen Ideen mehr als zögerlich gegenüberstehen. Abgesehen von den aktuellen politischen Problemen in Berlin, die ein strategisches Umdenken schwierig machen, wissen wir auch, dass Deutschland eindeutig von der umfassenden Globalisierung profitiert hat. Strategiewechsel sind nie einfach, wenn das aktuelle Konzept offensichtlich erfolgreich ist – never touch a running system. Dennoch: Da die einst schier unendliche Binnennachfrage in China nachgelassen hat und chinesische Produkte eine direkte Konkurrenz für deutsche sind, sowie angesichts der Aussicht auf eine noch protektionistischere US-Regierung im Falle eines Wahlsiegs von Donald Trump dürfte es für Berlin allmählich verlockender werden, eine Verlagerung hin zu mehr gemeinsamen Investitionen der EU-Mitglieder und einer „toleranteren“ Zentralbank zu akzeptieren.
Außerdem sind wir der Ansicht, dass die deutsche Regierung – wenn sie ihren Widerstand gegen einen Strategiewechsel aufgibt – eine wichtige Rolle als Mahner gegen ein zu schnelles Einschwenken auf das Draghinomics-Modell spielen könnte. So mangelhaft der Ansatz der 1990er auch war, so sehr befürchten wir auch, dass die neue allgemeine Begeisterung für die Einschränkung des freien Handels und die Abschaffung staatlicher Eingriffe zu politischen Fehlern führen könnte.
Rechtliche Hinweise