Aktienausblick: Taktische und langfristige Ziele – Eine Frage der Ausgewogenheit
Im Überblick:
- Auf kurze Sicht ist die gesamtwirtschaftliche Lage Europas eher schwierig, aber die Bewertungen scheinen – endlich – ihren Tiefpunkt erreicht zu haben.
- Die Bewertungen chinesischer Aktien sind eingebrochen, könnten aber kräftig steigen, wenn die COVID-19-Restriktionen weiter gelockert werden.
- Die USA sind eine starke Region, auch aus Investmentsicht; weltweite langfristige Trends bleiben intakt.
Für Risikoassets war 2022 kein gutes Jahr, vor allem für Aktien. Gemessen am MSCI World NR sind sie seit Jahresanfang um etwa 17% gefallen.1
Das Jahr brachte einige Herausforderungen mit sich. Nach der Pandemie ist die Inflation enorm gestiegen, und die Geldpolitik wurde straffer. Hinzu kam der Ukrainekrieg, durch den die Energiepreise – und Energieaktien – deutlich zugelegt haben.
Energiewerte liegen in diesem Jahr bislang um etwa 64% im Plus, während Aktien aus den Sektoren IT und Kommunikationsdienstleistungen um 32% und 44% eingebrochen sind.2 Der enorme Unterschied ist symptomatisch für das aktuelle regionale und gesamtwirtschaftliche Umfeld. Die Nachfrage nach Energie ist hoch; Technologie wird dagegen wegen des nachlassenden Wirtschaftswachstums weniger nachgefragt.
Der Mehrertrag traditioneller Energieaktien wird nicht von Dauer sein, während Sektoren wie Technologie oder saubere Energie langfristig stark wachsen dürften. In der Vergangenheit sind die Gewinne je Aktie bei IT-Titeln stabil gestiegen, während sie im Energiesektor wegen der Ölpreisschwankungen sehr volatil waren.3
Unterschiedliche Bedingungen
Die Unternehmensgewinne sind in diesem Jahr bemerkenswert stabil geblieben. Aber weil sich die Konjunkturdaten verschlechtert haben, gehen wir davon aus, dass sie etwas zurückgehen werden. Die Frage ist, wie dieser Rückgang aussehen wird: kurz und heftig oder von längerer Dauer, aber weniger stark? Aus unserer Sicht weist vieles auf Letzteres hin.
Die Bedingungen an den internationalen Aktienmärkten sind verschieden.
In China, dem restlichen Asien, Europa und Grossbritannien scheinen die schlechten Nachrichten bereits weitgehend in den Kursen enthalten zu sein. Hier liegen die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGV) zwischen 6% und 30% unter ihren langfristigen Durchschnitten. Die KGV von US-Aktien sind dagegen noch etwas höher als im langfristigen Durchschnitt.4
Wenn es überhaupt etwas Positives zur Ukrainekrise zu sagen gibt, dann ist es der zu erwartende massive kurzfristige Anstieg europäischer Aktien. In dieser Phase könnte sich Mehrertrag erzielen lassen. Aber die langfristigen Wachstumstreiber haben noch immer Bestand, und unserer Meinung nach sollte man langfristig nicht in Europa, sondern in den USA investiert sein.
Wie immer bei Fehlbewertungen werden Chancen entstehen. Aber nach wie vor gibt es auch zahlreiche Herausforderungen. Dennoch: Trotz der Flut schlechter Nachrichten gibt es aus unserer Sicht Gründe für Optimismus für das Jahr 2023. Aber Investoren müssen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen taktischen und langfristigen Positionen finden.
Taktische Positionen
Europa steckt in einer Energiekrise. Seit Jahresanfang sind die Aktienmärkte um 18% gefallen. Zugleich hat die Inflation im Oktober einen Höchststand von 10,7% erreicht, und die Konjunkturaussichten für die nächsten Quartale sind wenig erfreulich.5 Um die Teuerung einzudämmen, hat die Europäische Zentralbank (EZB) im Oktober ihre Leitzinsen zum zweiten Mal in Folge um 75 Basispunkte angehoben, sodass der Einlagenzinssatz bei 1,5% liegt – so hoch wie zuletzt 2009. Aber diese Entscheidung zeigt, dass die EZB zurzeit vor allem eines will: weniger Inflation.
Das Wachstum des Euroraum-BIP ist im 3. Quartal 2022 auf 0,2% zurückgegangen (von 0,8% im 2. Quartal). Eine baldige Besserung ist nicht in Sicht. Für das Gesamtjahr 2023 gehen wir von einer Schrumpfung des BIP um 0,5% aus.6 Wichtig ist aber, dass die Märkte die schlechten Aussichten bereits in den Kursen berücksichtigt haben. Hinzu kommt, dass die vier grössten Volkswirtschaften des Euroraums und Grossbritannien bereits Massnahmen zur Eindämmung der Inflation getroffen haben. Wir denken, dass davon in den nächsten Monaten noch mehr zu erwarten sind.7 Indem die Regierungen gemeinschaftlich gegen die Energiekrise angehen, haben sie deren Auswirkungen auf die Wirtschaft deutlich verringert.
Alles in allem ist die Stimmung schlecht. Die Investoren haben viele Wertpapiere abgestossen, die Bewertungen sind stark gefallen und haben vielleicht sogar schon ihre Tiefststände erreicht, und das gesamtwirtschaftliche Umfeld ist fragil. Aber genau das sind Phasen, in denen langfristige Investoren aktiv werden. Und eines steht fest: Wenn die Ukrainekrise nachlässt, könnten europäische Aktien enorm steigen, zumindest kurzfristig. Vor allem zyklische Sektoren wie Banken und Industrie sowie energieintensivere Bereiche wie Chemie und Automobilhersteller dürften sehr wahrscheinlich profitieren.
Auch in China kann es zu einer Rallye kommen. Dort sind die Bewertungen so niedrig wie nie, und das Land steht vor einigen erheblichen Herausforderungen, darunter die Auswirkungen der Null-COVID-Politik, der schwache Immobiliensektor und die Probleme, die dadurch entstehen, dass die Regierung den privaten Sektor bremst.
Aber die chinesische Wirtschaft könnte durchaus in der ersten Jahreshälfte 2023 wieder hochfahren, weil die pandemiebedingten Restriktionen gelockert werden, sodass die Nachfrage der privaten Haushalte und Unternehmen wieder steigen dürfte. Ausserdem gehen wir davon aus, dass die Regierung Zugeständnisse machen wird, nachdem sie dem privaten Sektor zuletzt schwer zu schaffen gemacht hat. Wenn es so kommt, dürften sich chinesische Aktien recht ordentlich erholen. Als kürzlich die Hoffnung auf eine Lockerung der Null-COVID-Politik aufkam, haben wir gesehen, was passiert. Einige Volkswirte gehen davon aus, dass der chinesische Aktienmarkt um bis zu enorme 20% zulegen könnte, wenn die Wirtschaft wieder vollständig geöffnet wird. Aber das wäre eine taktische Position.8
Langfristige Positionen
Die USA scheinen in einer besseren Verfassung zu sein als Europa und China. Im 3. Quartal ist die US-Wirtschaft um 2,6% p.a. gewachsen – mehr als erwartet, und nach dem Wachstumsrückgang um 0,6% p.a. im 2. Quartal eine Wende.9
Hinzu kommt, dass die Leitzinsen – hoffentlich – bald ihren Höhepunkt erreicht haben. Die Inflation geht bereits wieder zurück. Aus politischer Sicht erwarten wir nach den Zwischenwahlen in den USA eher so etwas wie einen Stillstand. In den nächsten zwei Jahren dürfte nichts Bahnbrechendes passieren, weder im negativen noch im positiven Sinne.
Wenn man das grosse Ganze betrachtet, sind die USA wirtschaftlich sehr heterogen. Die Energiesicherheit ist höher, die Demografie besser, die Beschäftigung solide, und US-Amerikaner haben viel Unternehmergeist. Alle weltweiten Wachstumstreiber – saubere Technologien, Automatisierung, Digitalisierung und Biotechnologie – spielen hier eine wichtige Rolle.
Ausserdem profitieren die USA von zwei kürzlich erlassenen Gesetzen, die für erheblichen Rückenwind sorgen dürften – dem CHIPS and Science Act und dem Inflation Reduction Act.
Durch den CHIPS Act, den Präsident Joe Biden im August 2022 unterzeichnet hat, werden 280 Milliarden US-Dollar investiert, um Technologie „made in America“ zu fördern, beispielsweise die Halbleiterproduktion. Nach Angaben des Weissen Hauses werden damit „die Fertigung in den USA, Lieferketten sowie die nationale Sicherheit gefördert und in Entwicklung, Wissenschaft und Technologie investiert“, um sicherzustellen, dass die USA „in den Technologien von morgen führend bleiben. Dazu zählen Nanotechnologie, saubere Energie, Quantencomputing und Künstliche Intelligenz“. All dies unterstützt die bereits bestehenden Trends.10
Hinzu kommt der Inflation Reduction Act (IRA), der ebenfalls im August dieses Jahres in Kraft trat. Er hat so etwas wie eine Zeitenwende in den USA eingeläutet. Die Weltbank geht davon aus, dass sich durch den IRA die Wirtschaftlichkeit der industriellen Dekarbonisierung massiv verändern wird.11
Im Grunde genommen wurde der IRA eingeführt, um die Dekarbonisierung jener Branchen des privaten Sektors voranzutreiben, in denen dies schwierig ist. Das Gesetz stellt Ausgaben und Steuerstundungen in Höhe von etwa 500 Milliarden US-Dollar in Aussicht, um Investitionen in saubere Energie zu fördern, die Gesundheitskosten zu senken und die Steuereinnahmen zu erhöhen.
Es hat Bereiche in Schwung gebracht, von denen niemand je geglaubt hatte, dass die USA hier führend werden könnten. Dank der Politik und der sich bietenden wirtschaftlichen Chancen könnten sie in puncto Dekarbonisierung vom Nachzügler zum Vorreiter aufsteigen.
Biden will, dass Zehntausende Arbeiter eingestellt werden, um bis 2030 30 Gigawatt an Offshore-Windenergie zu produzieren, womit man bequem 10 Millionen Haushalte mit Energie versorgen und zugleich Arbeitsplätze schaffen kann.12
Aber während die Zukunft für die weltweit größte Volkswirtschaft rosig aussieht, hat sich der Aktienmarkt in diesem Jahr nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Seit Jahresanfang ist der S&P 500 um 16% gefallen.13 Aber in einigen dieser langfristigen Wachstumssektoren haben sich die Bewertungen normalisiert, während – und das ist wichtig – die langfristigen fundamentalen Trends nach wie vor dieselben sind: Die Verlagerung in die Cloud geht weiter, die Software-Revolution geht weiter, und auch die Automatisierung wird sich weiterentwickeln und wachsen. Aus unserer Sicht sind die Bewertungen von Unternehmen höchster Qualität zwar nicht extrem günstig, aber zumindest attraktiver als zuvor. Hinzu kommt, dass ein Ende der geldpolitischen Straffung und ein leichter Rückgang der Inflation die Stimmung der internationalen Aktieninvestoren deutlich verbessern würden.
Vorsichtiger Optimismus
Zurzeit befindet sich Europa mitten in der Energiekrise. Kurzfristig ist das gesamtwirtschaftliche Umfeld schwierig, aber die Bewertungen scheinen, zumindest hoffentlich, nicht weiter zu fallen.
Von einer Lösung des Ukrainekonflikts würden einige Unternehmen aus dem Konsumsektor und der Industrie enorm profitieren. Auch könnte eine weitere deutliche Lockerung der COVID-Politik in China und eine Belebung der chinesischen Wirtschaft Europas Exporten Auftrieb geben. Wir sehen mehrere Faktoren, die eine mögliche Erholung auslösen könnten.
Längerfristig halten wir die USA für eine starke Region, auch aus Investmentsicht. Die internationalen Trends halten an (Digitalisierung, Automatisierung und saubere Technologie), und im Bereich der Dekarbonisierung werden die USA von einem Nachzügler zu einem globalen Vorreiter.
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